Zwischen Wohlstand und Knappheit – Über Zeit und Lebensqualität
Sie betrifft jedes Lebewesen dieser Erde, niemand kann ihr entrinnen. Mal scheint sie stillzustehen, mal vergeht sie rasend schnell; und das zumeist genau in den Momenten, die man am liebsten festhalten möchte. Die Rede ist natürlich von Zeit.
Ständige Erreichbarkeit, Multitasking, Freizeitstress und in der Pause ein Weckerl zum Mitnehmen, das man in den Monitor starrend verspeist – obwohl wir heutzutage mehr Freizeit haben denn je, scheint diese bei manchen Menschen im hektischen Alltag unterzugehen. Andere hingegen kommen kaum in den Genuss, nur einigermaßen frei über ihre Zeit zu verfügen.
Zeitwohlstand
Freizeit zu haben und sich die Zeit einteilen zu können, ist maßgeblich für die Lebensqualität. Woran aber macht man einen Zeitwohlstand fest? In Anlehnung an den Zeitforscher Jürgen Rinderspacher definiert das deutsche Forschungsprojekt ReZeitKon unter anderem folgende Aspekte für Zeitwohlstand:
- Einen angemessenen Umfang freier Zeit zur Verfügung zu haben (freie Zeit)
- Genügend Zeit pro Zeitverwendung – beziehungsweise Aktivitäten in ausreichendem Tempo ausführen zu können (Tempo)
- Eine gewisse die Zukunft betreffende Überschaubarkeit (Planbarkeit)
- Die Möglichkeit, sich verschiedene zeitliche Anforderungen zufriedenstellend einrichten zu können, beispielsweise die Vereinbarkeit von Beruf, Familie und anderen nahestehenden Personen (Synchronisierung)
- Möglichst eigenständig über den Tagesablauf zu bestimmen (Zeitsouveränität)
Zeit zu haben für geliebte Menschen, für Hobbys, für Entspannung und dafür, im Alltag nicht ständig gehetzt den Zeigern der Uhr hinterherzujagen, ist maßgeblich für das eigene Wohlbefinden. Zeitwohlstand kann aber auch zur Verbesserung der Gesellschaft beitragen: Auf individueller Ebene ermöglicht er die Ruhe, innezuhalten und durch Selbstreflexion möglicherweise neue Perspektiven wahrzunehmen.
Weiters dient eine gewisse Entschleunigung als Kitt für das Gemeinschaftsgefühl – denn ehrenamtliches Engagement oder für nahestehende Personen da zu sein, erfordert Zeit und Muße. Und auch auf die Umwelt hat Zeitwohlstand einen positiven Einfluss, etwa dann, wenn man die Zeit hat, Dinge zu reparieren, statt sie wegzuwerfen, oder man sich einen freien Tag nimmt, um Wandern zu gehen, anstatt sich selbst in der Freizeit mit unzähligen Aktivitäten zu überladen und zwischendurch – zur Bedürfnisbefriedigung – neue Produkte kauft, die man vielleicht gar nicht braucht. Freilich gehen Zeitwohlstand und Nachhaltigkeit nur dann Hand in Hand, wenn die gewonnene Zeit nicht mit Wochenend-Urlauben per Flugzeug-Anreise oder vergleichbaren Aktivitäten ausgefüllt wird.
Zeitarmut
Zeit ist Geld, Geld ist Zeit – obwohl Zeitwohlstand, sofern er gut genutzt wird, facettenreiche Vorteile mit sich bringt; und Künstler*innen, Philosoph*innen sowie viele andere Loblieder auf den Müßiggang singen, wird dessen Relevanz nur selten besprochen, teilweise sogar belächelt oder verurteilt.
Die Kehrseite des Zeitwohlstands ist die Zeitarmut. Nebst einem Mangel an frei verfügbarer Zeit geht sie meist mit Stress einher. Und dieser wiederum kann sich negativ auf die Gesundheit auswirken. So legt eine Publikation der Gesundheit Österreich dar, dass Zeitarmut das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen erhöht und schwerwiegende Auswirkungen wie etwa einen Herzinfarkt zur Folge haben kann. Auch Schlafstörungen, Erschöpfung und psychische Probleme, mangelnde Zeit für Sport, soziale Beziehungen oder das eigenständige Zubereiten gesunder Mahlzeiten werden in dem Bericht im Zusammenhang mit anhaltendem Stress genannt.
Zeitarmut zieht sich durch alle Bevölkerungsgruppen – von der selbstständigen Unternehmerin über pflegende Angehörige bis zur Managerin. Besonders belastend ist die Situation, wenn Zeitarmut mit einem Mangel an finanziellen Mitteln einhergeht, wofür es unzählige Beispiele gibt:
Alleinerziehende Mütter, die lediglich einer Teilzeitarbeit nachgehen können, da an ihnen diverse unbezahlte Aufgaben hängen bleiben, prekär Beschäftigte, die trotz Vollzeitarbeit kaum über die Runden kommen oder aufgrund atypischer Beschäftigung (Zeitarbeit, befristete – oder geringfügige Arbeitsverhältnisse etc.) mehrere Jobs haben, pflegende Angehörige oder Student*innen und Auszubildende, die sich selbst erhalten müssen.
Dies widerspricht einerseits den gängigen Vorurteilen über Spätaufsteher*innen, die soziale Hängematte und der Faulheit als Wurzel von Armut. Andererseits wird deutlich, wie wichtig Diskussionen über Zeitgerechtigkeit, Sorgearbeit oder die Definition von Leistung und deren Vergütung wäre. Denn: Letztendlich bleibt allen nur die Zeit auf Erden, die uns vom Leben zugestanden wird.