Chronischer Stress – Tipps zum Stress abbauen
Zeitarmut und chronischer Stress – wer denkt, dies sei ausschließlich ein Phänomen, von dem Manager*innen oder einflussreiche Personen betroffen sind, irrt. Denn: Entgegen allen Vorurteilen rund um die soziale Hängematte sind auch viele Menschen mit geringen finanziellen Mitteln von chronischem Stress betroffen.
Was hilft, die ständige Anspannung im Alltag zu reduzieren? Anhand welcher Anzeichen merkt man, dass man bereits überlastet ist, und welche einfachen und kostenlosen Möglichkeiten gibt es zur Prävention? Dr. Alice Knarr ist Psychotherapeutin und Expertin für Überlastungs- und Stressreaktionen. Im Interview gibt sie wertvolle Tipps und praktische Übungen gegen chronischen Stress, die einfach und kostenfrei im Alltag angewandt werden können.
Der Alltag als Stechuhr – alles ist bis ins Detail getaktet, Spontanität kaum mehr möglich; wie kann man mit andauerndem Stress umgehen, wenn man „funktionieren“ muss?
Dazu finde ich die Metapher des Hamsterrads sehr treffend: Es dreht sich nur, weil wir darin rennen. Und genau hier liegt die Lösung: Wir können lernen, für einen Moment stehen zu bleiben – einfach aufhören, uns zu bewegen.
Schon kurze Pausen bewirken unglaublich viel! Es geht nicht darum, das Hamsterrad komplett zu stoppen, sondern sich kleine Lücken zu schaffen, durch die man frische Luft holen kann.
Eine Übung, die ich dazu gerne empfehle, nenne ich „Stoppen – Staunen – Starten“:
1. Stoppen: Halten Sie inne, egal, was Sie gerade tun. Lassen Sie die Arbeit oder die To-Do-Liste für einen Moment los.
2. Staunen: Schauen Sie sich bewusst um. Vielleicht entdecken Sie ein Detail, das Ihnen vorher nicht aufgefallen ist – die Farbe eines Gegenstands, ein Geräusch im Raum oder das Licht, das durch das Fenster fällt.
3. Starten: Kehren Sie danach zu Ihren Aufgaben zurück, aber mit dem Bewusstsein, dass Sie gerade einen Moment nur für sich hatten. Diese Übung dauert vielleicht zwanzig Sekunden, hat aber eine enorme Wirkung. Meiner Meinung nach unterschätzen wir, wie viel Kraft in solchen kleinen Momenten steckt.
Funktionieren zu müssen, gehört oft zu unserem Alltag – aber „funktionieren“ heißt nicht, dass wir uns dabei aufgeben. Es ist völlig in Ordnung, sich immer wieder kleine Inseln zu schaffen, um nicht nur zu rennen, sondern zwischendurch auch zu atmen.
Ständig unter Strom – welche langfristigen Folgen hat dieser Zustand eigentlich psychisch und physisch?
Viele Menschen kennen dieses Gefühl leider gut; als ob sie keine Pause machen dürften, weil immer noch etwas erledigt werden muss. Meine Patient*innen vergleichen sich oft mit einem gespannten Gummiband, das jeden Moment reißen könnte – dieser Zustand hat enorme Auswirkungen auf den Körper.
Einige Patient*innen erzählen, dass sie das Gefühl haben, ihr Herz „rase“, auch wenn sie still sitzen. Chronischer Stress hält das Herz-Kreislauf-System ständig auf Hochtouren und erhöht langfristig das Risiko für Herzinfarkte oder Schlaganfälle. Andere Patient*innen klagen über Magenkrämpfe oder Durchfall. Stress wirkt direkt auf das Verdauungssystem und kann sogar zu chronischen Entzündungen führen. Ebenso wird durch Stress die Entstehung von Bluthochdruck, Diabetes oder chronische Schmerzen begünstigt.
Auch die Psyche leidet unter chronischem Stress: Viele Menschen haben andauernd das Gefühl, „funktionieren“ zu müssen, und wissen gar nicht mehr, wie sie sich entspannen können. Selbst wenn sie sich zu Bett legen, dreht sich das „Gedanken-Karussell“ weiter. Denn: Stress hindert den Körper daran, in den Ruhezustand zu wechseln. Schlafmangel verstärkt wiederum die Stresssymptome – ein übler Teufelskreis.
Einige Patient*innen berichten zudem, dass sie zur Vergesslichkeit neigen, seit sie unter ständiger Anspannung stehen. Die körperliche Ursache dafür ist, dass chronischer Stress die Konzentration und das Arbeitsgedächtnis schwächt.
Leidet man unter Zeitarmut, scheint der Tag einfach zu wenige Stunden für all die Dinge zu haben, die man erledigen sollte oder gerne machen würde. Allem gerecht zu werden, ist manchmal nicht möglich. Wie kann man diesem Gefühl begegnen, und was hilft dabei, Prioritäten zu setzen?
Wenn alles gleich wichtig erscheint, empfehle ich: „Fang an, nicht alles zu tun.“
Eine „To-Don′t-Liste“ kann hier helfen. Schreiben Sie bewusst auf, was Sie NICHT tun werden. Das gibt Ihnen das Gefühl, die Kontrolle zurückzugewinnen, und schafft Raum für die wirklich wichtigen Dinge.
Ein weiterer Ansatz, den ich sehr schätze, ist das „Worst-Case-Puzzle“. Stellen Sie sich bei gewissen Aufgaben die Frage: „Was passiert wirklich, wenn ich das nicht mache?“ Oft merken wir, dass der vermeintliche Weltuntergang gar nicht eintritt.
Aufgrund von chronischem Stress kommt es teilweise zu „überschießenden Stressreaktionen“ in völlig unerwarteten Situationen. Welche praktischen Übungen helfen in solchen Momenten?
Akute Stressreaktionen sind wie ein Überdruckventil: Körper und Geist reagieren plötzlich und oft unverhältnismäßig, weil sie zu lange unter Belastung standen. In solchen Momenten ist es entscheidend, den „Not-Aus-Schalter“ zu finden, um das Nervensystem zu beruhigen und wieder Kontrolle über die Situation zu gewinnen. Hier sind einige Übungen, die sofort helfen können, Sie aus der Stressspirale zurück in die Gegenwart zu holen:
1. Die 5-4-3-2-1-Methode (Achtsamkeitsanker): Diese Übung hilft, das Gehirn vom Stressmodus auf den Moment zu fokussieren:
5 Dinge sehen: Schauen Sie sich um und benennen Sie 5 Dinge, die Sie sehen.
4 Dinge fühlen: Spüren Sie bewusst, was Sie berühren können (z. B. Ihre Kleidung oder den Boden unter den Füßen).
3 Dinge hören: Hören Sie auf Umgebungsgeräusche – vielleicht das Summen eines Kühlschranks oder Vögel, die draußen zwitschern.
2 Dinge riechen: Riechen Sie an etwas in Ihrer Nähe, z. B. Ihrem Kaffee oder Parfüm.
1 Ding schmecken: Wenn möglich, nehmen Sie einen Schluck Wasser oder kauen Sie Kaugummi.
2. Die „Box-Breathing“-Technik (Atmung regulieren): Eine kontrollierte Atmung signalisiert dem Nervensystem, dass keine Gefahr besteht. So geht’s:
4 Sekunden lang einatmen.
4 Sekunden die Luft anhalten.
4 Sekunden ausatmen.
4 Sekunden pausieren, bevor Sie wieder einatmen.
Wiederholen Sie das für 1-2 Minuten. Das beruhigt den Puls und die Gedanken.
3. Körperliche Anspannung und Entspannung („Stress entladen“): Wenn Stress im Körper „festsitzt“, hilft gezieltes Anspannen und Loslassen:
Spannen Sie alle Muskeln Ihres Körpers gleichzeitig für fünf Sekunden an (Hände zu Fäusten ballen, Schultern hochziehen, Bauch festmachen). Lösen Sie die Spannung mit einem bewussten Ausatmen. Diese Methode fühlt sich wie ein „Reset“ für den Körper an.
4. Der „Boden unter den Füßen“-Trick:
Wenn Stress überwältigend ist, hilft es, die Verbindung zur Realität zu spüren:
Stellen Sie beide Füße fest auf den Boden und drücken Sie sie bewusst dagegen. Sagen Sie sich innerlich: „Ich bin hier, ich bin sicher.“ Diese Übung stabilisiert und beruhigt, besonders bei plötzlicher Panik.
5. „Mini-Schrei“ oder „Haa-Atmung“ (schnelle Entlastung):
Manchmal braucht der Körper einen Ventilmechanismus:
Atmen Sie tief ein, halten Sie kurz die Luft an und machen Sie beim Ausatmen ein kräftiges „Haaa!“ Das entlädt sofort Anspannung und sorgt für Entlastung.
Diese Übungen brauchen weder viel Zeit noch spezielle Hilfsmittel und können fast überall durchgeführt werden. Sie helfen dabei, den Körper aus dem akuten Stressmodus zu holen und den Moment wieder unter Ihre Kontrolle zu bringen. Wichtig ist: Je häufiger Sie solche Techniken anwenden, desto schneller reagiert Ihr Nervensystem darauf in Stresssituationen.
Zur Prävention: Was tut dem Körper und der Psyche gut, das ohne große Umstände und kostenfrei in den Alltag integriert werden kann?
1. Micro-Pausen: Dreimal täglich eine Minute bewusst atmen (z. B. 4-4-4-4- Atmung: 4 Sekunden einatmen, halten, ausatmen, pausieren) – das wirkt sofort beruhigend
2. Kleine Bewegungseinheiten: Morgens fünf Minuten Dehnen oder leichtes Strecken – dies hilft dem Körper und aktiviert den Kreislauf
3. Dankbarkeitsritual: Vor dem Schlafen drei Dinge aufzählen, die gut waren – zur Stärkung der Psyche
4. Technikfreie Zonen: Handyfreie Zeiten am Abend oder während des Essens reduzieren Stress.
Kleine, regelmäßige Maßnahmen wirken oft nachhaltiger als aufwendige Pläne. Der Schlüssel liegt in der Einfachheit und Kontinuität.
Alleinerziehende, pflegende Angehörige oder Menschen, die aufgrund von Geldnot mehrere Arbeitsverhältnisse haben – manchen Personen sind kaum Verschnaufpausen im Alltag vergönnt. Was tun, wenn man nicht mehr als fünf Minuten am Tag für sich hat? Wie kann man in Momenten reagieren, wenn das Leben einfach „unfair“ erscheint, und wie sollte man damit umgehen, wenn man sich selbst zu Dingen, die stets Freude bereiteten, nicht mehr aufraffen kann? Mehr dazu lesen Sie im zweiten Teil des Interviews.