Der Alltag als Stechuhr - Übungen Zum Stress reduzieren
Alleinerziehende, pflegende Angehörige oder Menschen, die aufgrund von Geldnot mehrere Arbeitsverhältnisse haben – manchen Personen sind kaum Verschnaufpausen im Alltag vergönnt. Was tun, wenn man nicht mehr als fünf Minuten am Tag für sich hat? Wie kann man in Momenten reagieren, wenn das Leben einfach „unfair“ erscheint, und wie sollte man damit umgehen, wenn man sich selbst zu Dingen, die stets Freude bereiteten, nicht mehr aufraffen kann? Dr. Alice Knarr ist Psychotherapeutin und Expertin für Überlastungs- und Stressreaktionen. Im Interview gibt sie wertvolle Tipps und praktische Übungen zum Stress reduzieren, die einfach und kostenfrei im Alltag angewandt werden können.
„Nimm ein Bad, geh spazieren und mach doch auch mal was für Dich“ – eine Phrase, die für viele Alleinerziehende oder pflegende Angehörige schlicht nicht umsetzbar ist, weil die Zeit dafür fehlt. Gibt es effektive Möglichkeiten, den Stress im Alltag zu lindern, wenn man – wie in manchen Extremfällen – nur fünf bis zehn Minuten am Tag für sich hat?
Der Satz „Nimm dir Zeit für dich“ klingt gut, doch löst er oft mehr Frust als Hoffnung aus, weil er die Realität vieler Menschen nicht berücksichtigt. Wer sich um Kinder kümmert oder mit zwei Jobs jongliert, denkt: „Zeit für mich? Das wäre ein Traum!“
Wer nur wenig Zeit für sich hat, muss sich sehr genau fragen, wie man die wertvollen Pausen optimal zur Erholung nutzt. Die gute Nachricht: Es gibt Übungen, die auch in kurzer Zeit sehr gut helfen können:
Eine Übung, die ich gerne empfehle, ist die „Chaos-Atmung“. Sie ist simpel, schnell und effektiv:
1. Setzen Sie sich hin und atmen Sie tief ein. Spannen Sie dabei alle Muskeln an – Ihr Gesicht, die Arme, die Beine, sogar den Bauch.
2. Halten Sie die Spannung für ein paar Sekunden.
3. Lassen Sie durch ein lautes, befreiendes Ausatmen alles auf einmal los.
Das dauert vielleicht zwei Minuten, fühlt sich aber an wie ein innerer Neustart. Viele meiner Patient*innen sagen, dass sie danach klarer denken können und sich körperlich entspannter fühlen.
Eine andere Idee: Verwandeln Sie alltägliche Aufgaben in kleine Rituale. Wenn Sie den Abwasch machen, tun Sie es bewusst langsam. Spüren Sie das warme Wasser, hören Sie dessen Geräusch, achten Sie auf die Bewegungen Ihrer Hände. Es klingt banal, aber genau diese Momente können Wunder wirken.
Manche Menschen, die unter chronischem Stress leiden, haben vielleicht etwas mehr Zeit zur Verfügung, doch fühlen sich zu erschöpft, um etwas für sich zu tun. Was hilft in solchen Situationen? Wie kann man sich motivieren, sich aufzuraffen?
Hierbei vergleiche ich Erschöpfung mit einem schwereren Mantel – er drückt uns nieder und macht jede Bewegung mühsam. Oft ist es in solchen Momenten entscheidend, sich nicht mit großen Zielen zu überfordern. Starten Sie mit dem einfachsten denkbaren Schritt – „klein anfangen“ ist oft der Schlüssel.
Ein Beispiel: Anstatt sich zum Spazieren zu zwingen, sagen Sie sich: „Ich ziehe nur meine Schuhe an.“ Das war′s. Mehr müssen Sie nicht tun. Und wissen Sie, was passiert? Meistens macht man dann doch den nächsten Schritt, weil die Hürde schon genommen ist.
Besonders gefällt mir die Idee des „10-Sekunden-Tanzes“. Dazu empfehle ich Patient*innen: „Such dir ein Lied, das du liebst, und tanze zehn Sekunden dazu – wild, frei und ohne Regeln.“ Es klingt albern, aber diese zehn Sekunden können Energie freisetzen, die vorher nicht da war. Und oft hören die Menschen danach nicht auf, weil sie plötzlich wieder Spaß empfinden.
Speziell pflegende Angehörige und Alleinerziehende geben meist 120 %; Erholungszeit ist rar – und dennoch ist das Geld oft zu knapp, um sich oder den Kindern gewisse Dinge zu ermöglichen. Welcher Gedanke oder welche Übung wirkt in Momenten des „sich unzureichend Fühlens“ oder wenn einem „das Leben unfair erscheint“ unterstützend?
Pflegende Angehörige und Alleinerziehende stehen meist unter einem enormen Druck. Sie versuchen, den Erwartungen gerecht zu werden – den eigenen, denen der Kinder oder der Personen, die sie pflegen. Und ja, manchmal scheint es, als sei das Leben besonders ungerecht. Warum müssen diese Menschen so viel tragen, während andere scheinbar leicht durchs Leben kommen?
In solchen Momenten hilft es, die Perspektive zu wechseln. Das Gefühl des „Nicht-Genügens“ ist oft eine Illusion, die entsteht, wenn wir uns mit einem unerreichbaren Ideal vergleichen. Hilfreicher wäre es, sich mit den Augen einer guten Freundin oder eines guten Freundes zu betrachten. Fragen Sie sich: „Was würde ich meiner besten Freundin in dieser Situation sagen?“ Sicherlich nicht: „Du bist nicht genug.“ Wahrscheinlich eher: „Du machst unglaublich viel. Es ist in Ordnung, dass nicht alles perfekt ist.“
Eine Übung, die in solchen Momenten sehr kraftvoll sein kann, ist der „emotionale Mülleimer“:
Stellen Sie sich vor, wie Sie all Ihre Sorgen, Selbstzweifel und Schuldgefühle in einen Eimer werfen. Vielleicht sogar mit Schwung – so, als ob Sie diese Last ein für alle Mal loswerden wollen. Machen Sie den Deckel zu und stellen Sie den Eimer gedanklich vor die Tür. Lassen Sie ihn dort. Dieses Ritual hilft vielen Patient*innen, sich für einen Moment vom Druck zu befreien und den Tag positiv abzuschließen.
Wenn das Leben unfair erscheint, finde ich es außerdem wichtig, den Fokus auf das zu lenken, was gut läuft – so klein es auch scheinen mag. Hier hilft die Übung des „Dankbarkeitsankers“:
Denken Sie an etwas, das am heutigen Tage gut gelaufen ist – vielleicht das Lächeln Ihres Kindes, einen Moment der Ruhe oder einfach daran, dass Sie sich trotz allem wieder aufgerafft haben. Halten Sie diesen Gedanken fest, schreiben Sie ihn auf oder sprechen Sie ihn laut aus.
Diese kleinen Schritte ändern nicht die Welt, aber sie helfen, die Perspektive zu verschieben. Manchmal reicht das, um den Druck zumindest für einen Moment zu lindern.
Wenn Sie das Gefühl haben, nicht genug zu sein, erinnern Sie sich daran: Sie leisten mehr, als Sie selbst wahrnehmen. Ihre Kinder oder die Menschen, die Sie pflegen, brauchen keine perfekte Version von Ihnen – sie brauchen Sie, genauso wie Sie sind. Und das ist genug.
Stichwort Alleinerziehende – was tun, wenn sich Kinder verantwortlich für die Situation der Eltern fühlen – selbst wenn die Eltern beteuern, dass sie es nicht sind? Welche Möglichkeiten gibt es, Kindern – trotz herausfordernder Situation – Zuversicht zu vermitteln?
Kinder übernehmen oft unbewusst Verantwortung, wenn sie spüren, dass ihre Eltern belastet sind. Das kann sie emotional überfordern. Um dem entgegenzuwirken, helfen folgende Ansätze:
1. Klare Kommunikation: Kinder spüren, wenn etwas nicht stimmt. Statt „Alles ist in Ordnung“ zu sagen, formulieren Sie besser: „Ja, es ist gerade schwierig, aber ich habe das im Griff.“ Das gibt Sicherheit, ohne falsche Versprechen zu machen.
2. Kleine, altersgerechte Aufgaben: Kinder möchten oft helfen. Geben Sie ihnen einfache Aufgaben wie Tischdecken oder Blumen gießen. Das stärkt ihr Selbstbewusstsein, ohne sie zu überfordern.
3. Positive Momente schaffen: Integrieren Sie kleine Rituale – ein gemeinsames Spiel, eine Bastelstunde oder eine „Dankbarkeitsminute“, in der jedes Familienmitglied etwas Positives nennt. Solche Momente bieten Leichtigkeit und Zuversicht.
4. Gefühle ernst nehmen: Kinder dürfen traurig oder wütend sein. Um Vertrauen zu schaffen, zeigen Sie Verständnis: „Ich sehe, dass dich das belastet. Das ist okay.“
5. Vorbild sein: Kinder lernen durch Nachahmung. Wenn Sie selbst Stärke zeigen und konstruktiv mit Herausforderungen umgehen, fördert das die Fähigkeit Ihrer Kinder, Probleme und Krisen zu bewältigen (Resilienz). Das bedeutet nicht, Sorgen zu verstecken, sondern zu zeigen, wie man mit ihnen umgeht.
Kinder brauchen vor allem das Gefühl, dass ihre Eltern die Situation bewältigen können, und Raum, ihre Gefühle auszudrücken. Mit offener Kommunikation und kleinen positiven Ritualen stärken Sie ihre Resilienz – auch in schwierigen Zeiten.
Was macht Dauerstress mit der Psyche, welche Anzeichen zeigen, dass der Stress überhandnimmt und wie sollte man gegebenenfalls handeln?
Die Überlastung entwickelt sich schleichend, weshalb viele Menschen sie erst spät erkennen. Oft leiden sie dann bereits unter den weitreichenden Folgen von monate- oder jahrelangen Dauerstress:
Das Gefühl, permanenter Erschöpfung oder einfach „leer“ zu sein, ist typisch. Selbst die Dinge, die früher Freude bereiteten, werden dann als anstrengend und sinnlos empfunden. Chronischer Stress verändert die Balance der Botenstoffe im Gehirn und kann so psychische Erkrankungen auslösen, etwa Angststörungen oder Depressionen. Einige berichten, dass sie ständig besorgt oder niedergeschlagen sind, ohne genau zu wissen, warum. Andere wiederum haben Konzentrationsprobleme oder Schwierigkeiten, Entscheidungen zu treffen, grübeln ständig oder haben das Gefühl, „keine Ruhe“ zu finden. Gereiztheit, plötzliche Wutausbrüche, häufiges Weinen, ein Gefühl der Überforderung oder emotionalen Leere können ebenso erste Anzeichen dafür sein, dass der Stress überhandnimmt.
Wichtig ist, die Warnzeichen ernst zu nehmen. Stress gehört zum Leben, aber er darf nicht zum „Normalzustand“ werden. Mit kleinen Schritten wie regelmäßige Pausen, Bewegung und Achtsamkeitsübungen können wir den Teufelskreis durchbrechen – bevor die langfristigen Folgen spürbar werden. Sollte dies bereits der Fall sein, gibt es speziell in Wien viele günstige oder sogar kostenlose Angebote zur Unterstützung…
Zeitarmut und chronischer Stress – wer denkt, dies sei ausschließlich ein Phänomen, von dem Manager*innen oder einflussreiche Personen betroffen sind, irrt. Denn: Entgegen allen Vorurteilen rund um die soziale Hängematte sind auch viele Menschen mit geringen finanziellen Mitteln von chronischem Stress betroffen.
Lesen Sie gerne auch den ersten Teil des Interviews, wenn Sie mehr darüber erfahren möchten, was hilft, die ständige Anspannung im Alltag zu reduzieren, anhand welcher Anzeichen man merkt, dass man bereits überlastet ist, und welche einfachen und kostenlosen Möglichkeiten es zum Stress reduzieren gibt.